Herr Heckhorn, Herr Grunau, zum Einstieg sollte erwähnt werden, dass die CENIT ein Software- und Beratungshaus mit einer langjährigen Partnerschaft zu SAP und Dassault Systèmes ist. Sie sind sozusagen „in beiden Software-Welten zu Hause“ und haben jahrzehntlange Erfahrung mit der Integration dieser Welten. Diese Erfahrung haben sie im Frühjahr 2021 als erstes Unternehmen in eine innovative Systemarchitektur umgesetzt, die in der Cloud, hybrid und on-premises den digitalen Faden über die SAP Unternehmens-Software und die Dassault Systèmes 3DEXPERIENCE Plattform spinnen kann. Erfolg stellt sich allerdings in der Kombination aus Technologie- und Prozessoptimierung ein. Ihr Gesamtkonzept für die Implementierung nahtloser-Geschäftsprozesse beinhaltet deshalb alle notwendigen Komponenten für die erfolgreiche Umsetzung einer Digitalisierungsstrategie.
Erklären Sie das bitte genauer? Welche Zielsetzung verfolgt der Ansatz und an wen richtet er sich?
Martin Grunau: Wir setzen an zwei entscheidenden Dimensionen für produzierende Unterhemen an: dem Produkt-Entstehungs- bzw. Innovationsprozess einerseits und den eher operationellen Geschäfts-Prozessen auf der anderen Seite. Unser Ziel dabei ist es, diese Prozesse entlang des gesamten Produktentstehungszyklus – bis zum Service inkl. Kopplung zurück – zu optimieren und digital miteinander zu integrieren, wenn man so will, zu „verschmelzen“. Tut ein Unternehmen dies nicht, entstehen im Zeitverlauf Daten-Silos, Redundanzen, informationsbedingte Diskontinuitäten in Entscheidungsprozessen – bis hin zu einer Verlangsamung des gesamten Produktentstehungsprozesses.
Horst Heckhorn: Entscheidend ist: Der Ansatz ist sicher nicht neu. Wir richten aber das Augenmerk darauf, dass der eigentliche Wertschöpfungs- oder PLM-Prozess, der den Weg von der Produktidee bis in den Service beschreibt und der ERP-Prozess, d.h. die komplette Auftragsabwicklung inklusive Steuerung, Logistik etc., von Anfang an als ein Prozess gedacht werden und gelebt werden müssen. Mit den innovativen und ausgereiften Software-Plattformen von SAP für das Operative und von Dassault Systèmes für das Innovationsmanagement haben wir auch technologisch eine exzellente Basis, diesem Anspruch gerecht zu werden.
Die neue Software-Architektur gibt uns zum ersten Mal die Möglichkeit, sehr weitgehende Prozess- und Datenintegrationen mit einem wirtschaftlich vertretbaren Aufwand herzustellen. Es war ein langer Weg zu diesem Punkt. Umso mehr freut es uns, dass wir unseren Kunden jetzt als Trusted Advisor für Ihre Digitalisierung zur Seite stehen können.
Martin Grunau: Dafür ist jedoch eine Daten- und Geschäftsprozess-Integration unabdingbar. Unsere Überzeugung ist – die übrigens auch in der Praxis bestätigt wird – dass bloße Daten-Integrationen nicht greifen. Sie können nur dann wertschöpfend sein, wenn die Daten-Integrationen über Geschäftsprozesse gesteuert werden können.
Ist erfolgreiche Digitalisierung also ein „Selbstläufer“ – wenn doch Technologie und Prozesswissen bereits existieren?
Horst Heckhorn: Die größte Herausforderung ist, wie bei allen Digitalisierungsprojekten, der Faktor Mensch. Nicht selten finden wir bei unseren Kunden die traditionellen „Silos“: langjährig eingeschliffene Abteilungsgrenzen, Haltungen und Denkweisen, die separieren statt zu integrieren. Oft müssen wir zunächst die Menschen mitnehmen, überzeugen und aus Ihrer persönlichen Komfortzone bringen. Auch wenn wir die Beratungsexpertise, die Erfahrung und die Technologie mitbringen: Wenn ein Unternehmen keine Strukturen aufsetzt, um die bisherigen Grenzen zu überwinden, wird das Vorhaben nicht erfolgreich sein. Die Herausforderung – und der Schlüssel zum Erfolg – besteht darin, tradierte Haltungen und Denkweisen zu verändern.
Nehmen wir die Sicht eines möglichen Kundenunternehmens ein: Die spannende Frage wäre, welchen digitalen Reifegrad ein Unternehmen haben sollte, um von Ihrem Ansatz zu profitieren?
Martin Grunau: Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist: „Was ist eigentlich digital reif?" Wir verstehen darunter das Commitment eines Unternehmens, das Thema Digitalisierung in der Priorität so hoch zu adressieren, dass die notwendigen Strukturen, Entscheidungen, Veränderungen und Budgets bereit stehen, um digitale Transformationen umzusetzen. Das heißt konkret: digitale Reife benötigt Mittel, die nur mit einer Führungsmannschaft (C-Level) zu erreichen ist, die aktiv dieses Thema verfolgt.
Horst Heckhorn: Ich stimme Martin zu. Entscheidend für den Erfolg der Digitalisierung eines Unternehmens ist nicht nur die bestehende „digitale Technologiereife“. Die Technologie-Reife bestimmt den Ausgangspunkt und die technologische Lücke, die zu schließen ist. Mindestens genauso wichtig ist die „kulturelle“ Reife. Wie reif ist das Unternehmen in seiner Kultur, in seiner Management-Steuerung, in der Haltung der Beteiligten aller Hierarchieebenen sich darauf einzulassen, Gutes besser zu machen und völlig neue Wege zu gehen? Wenn die Unternehmensführung nicht Bestandteil und Sponsor einer offenen Denkweise „Out off the box“ ist, dann kann ein Unternehmen – salopp gesagt – viel Geld investieren, um schlechte Prozesse digital zu betonieren.
Reicht die Bereitschaft, bzw. die Reife für die Digitalisierung für Ihren Ansatz aus? Oder muss eine technologische Basis da sein?
Horst Heckhorn: Wir machen den Erfolg unseres Ansatzes nicht abhängig von dem IT-Ausgangszustand – schon gar nicht in einer Welt, in der heute immer mehr die Applikation „aus der Steckdose“ kommt. Denn mit Cloud-Anwendungen kann man Technologien in kürzester Zeit nutzbar machen.
Martin Grunau: Genau, Unternehmen brauchen keine spezifische IT-Infrastruktur, um unseren PLM-Ansatz zu implementieren, bzw. damit ihr PLM zu rationalisieren. Durch unseren Lösungsansatz verfolgen wir genau diese technologische Unabhängigkeit, in dem wir z.B. den Kunden ermöglichen, entweder on-premises, in der Cloud oder auf eine hybride IT Architektur aufzusetzen. Aber die 98 bedeutenderen Prozent sind jene Herausforderungen, die wir vorhin erwähnten.
Sie erwähnten die Daten- und Geschäftsprozessintegration. Welche Anwendungsfälle kann man sich dazu vorstellen? Und wo liegt der Mehrwert?
Horst Heckhorn: Nehmen wir den vielzitierten digitalen Zwilling: Damit es den digitalen Zwilling geben kann, braucht man seinen realen Bruder. Wann gibt es aber den realen Bruder? Relativ spät im Prozess – im Prototypenbau oder sogar erst in der Produktion. Der Einsatz moderner Technologien verlagert viele Prozesse in die virtuelle Welt – Frontloading wird damit vom Wunsch zur Wirklichkeit. Simulationen, What-if-Szenarien, Logistikplanungen etc. werden zunehmend auf dem virtuellen Produkt aufgesetzt und müssen verlustfrei auf das reale Produkt übertragen werden. Dazu bedarf es konsistenter Datenströme und gut organisierter Prozessabläufe. Sobald das reale Produkt existiert, ist die kontinuierliche Synchronität der analogen und digitalen Zwillinge Voraussetzung für die sinnvolle weitere Nutzung der Simulationsanwendungen. Deswegen lenken wir den Fokus bereits in der virtuellen Produktentstehung auf die prozessgetriebene Kommunikation mit dem digitalen Unternehmens-Backbone. Die Synchronität der digitalen und realen Zwillinge kann nicht mit einer einmaligen Datenübergabe am Ende des Entwicklungsprozesses geschaffen werden. Sie ist eine permanente Aufgabe für die bi-direktionale Kommunikation der Innovations- und Operations-Plattformen im Unternehmen.
Und die Mehrwerte: Geschwindigkeit, Prozesskosten, Durchlaufzeit – all die typischen KPIs, die im Unternehmen eine Rolle spielen.
Martin Grunau: Nicht zu vergessen das Thema Nachhaltigkeit: Der Einsatz des digitalen Zwillings zur Simulation von Prozessen und Abläufen ist offensichtlich deutlich nachhaltiger, als die analoge Variante. Zusätzlich zu den klassischen betriebswirtschaftlichen Zielsetzungen erschließt der digitale Zwilling im Produkt-Lebenszyklus Potentiale bzgl. Flexibilität, Kreativität, Qualität und Nachhaltigkeit.
Gehen wir eine Ebene tiefer: Wie sieht ein mögliches konkretes Umsetzungsszenario bei einem Unternehmen aus?
Horst Heckhorn: Um die strategischen und operativen Herausforderungen zu beantworten, haben wir eine zweidimensionale Beratungsmethodik entwickelt. Einerseits ein sogenanntes Digital Process Assessment (DPA) als Top-down-Ansatz: wir betrachten gemeinsam mit dem Top-Management des Kunden die Unternehmensziele, das Geschäftsmodell, bereits vorhandene strategischen Initiativen etc. und übersetzen die Zielsetzungen in die Digitalisierungsstrategie. Gleichzeitig betrachten wir mit den Experten im Unternehmen in unserem Bottom-up-Ansatz Customer Method Assessment (CMA) die genutzten Methoden und Werkzeuge in der virtuellen Produktentstehung und erarbeiten Vorschläge zur Optimierung.
Aus der Verzahnung der DPA- und CMA-Ergebnisse erarbeiten wir im Anschluss einen sinnvollen, passgenauer Phasenplan, in dem die Digitalisierung so genutzt wird, dass sie die Unternehmensziele operativ in den Prozessen, Methoden und Werkzeugen verankert.
Martin Grunau: In der Umsetzung des Phasenplans bieten wir mit unseren „Ready-to“-Paketen Best Practice Lösungen an, die eine schnelle und kostengünstige Unterstützung zentraler Use Cases ermöglichen, die wir aufgrund unserer Erfahrung als „Common Sense“ identifiziert haben. Die Pakete schaffen risikoarm die Basis für die produktive Nutzung der integrierten Lösungen und ermöglichen den Erfahrungsaufbau bei den Endanwendern. Trotz aller Erfahrung können wir in den Best Practice Paketen nicht alles abbilden, deshalb gibt es fast immer einen unternehmensspezifischen Anteil, den wir als flexibler Partner unserer Kunden durch Customizing hinzufügen.
Bevor sich ein Unternehmen für einen Digitalisierungsweg entscheidet, stellt es sich die Frage, welcher konkrete Mehrwert entsteht. Wann sind erste Erfolge Ihres Ansatzes bemerkbar?
Horst Heckhorn: Bereits früh im Projekt, denn wir ermöglichen Unternehmen durch Quick Wins „schneller auf die Straße“ zu kommen. Statt monatelanger Blueprint-Erstellung machen wir mit unserem Ready-to-Ansatz relevante Anwendungen schnell verfügbar. Das ist die Stärke des Ansatzes, dass wir durch eine Vielzahl an Best Practices schnell erste, greifbare Erfolge und Optimierungen in Unternehmen generieren können. Dies natürlich auf der Basis der Ergebnisse der Assessments – damit wir an den richtigen Stellen ansetzen. Zentral ist zudem, dass wir gemeinsam eine Erfahrungswelt mit neuen Arbeitsweisen aufbauen, um nicht nur die Akzeptanz der Anwender zu fördern sondern den Kreativprozess in Gang zu bringen. Letztendlich kommen oft die besten Digitalisierungsideen von denjenigen, die tagtäglich mit den Prozessen und Methoden arbeiten.
Denn die Zeiten der Akzeptanz endlos laufender Projekte ohne konkrete Anwendung – die sind schon lange vorbei.
An der Stelle noch ein engerer Zusammenschluss zwischen Theorie und Praxis: Gibt es Unternehmen, die Ihren Ansatz schon implementieren, bzw. ihr PLM danach gestalten?
Martin Grunau: Definitiv. In den vergangenen 30 Jahren haben wir als CENIT hunderte von Unternehmen dabei unterstützt, ihre Entwicklungs- und Geschäftsprozess-Welt besser zu integrieren. Und um ein aktuelles Beispiel zu geben: Im vierten Quartal 2021 haben sich drei große Aerospace Unternehmen aus Europa und den USA dazu entschieden, mit uns gemeinsam den Transformations-Weg End-to-End zu gehen, d.h. mittels Integration der beiden Plattformen von Dassault Systèmes und SAP.
Warum nun die Plattformen von SAP und Dassault Systèmes?
Horst Heckhorn: Weil wir als Partner von SAP und Dassault Systèmes für unsere Kunden die Synergien nutzbar machen wollen, die aus der Integration der beiden Plattform entstehen. Unsere Partnerschaft basiert nicht zuletzt auf der Überzeugung, dass dies die besten Lösungen in den jeweiligen Segmenten sind – dem Innovationsbereich / der Produktentstehung und dem ERP-Bereich.
Herr Heckhorn, Herr Grunau – vielen Dank für dieses Gespräch!
Zuerst erschienen in: IT & Production, Ausgabe 2/2022, Sonderteil Produktdatenmanagement. Hier geht es zur Online-Version des Artikels