Sechs Trends für die digitale Produktentwicklung

Gastautor Ralf Steck beschreibt die zentralen Bausteine einer gelungenen Digitalisierung für die Fertigungsindustrie

Veröffentlicht 27.01.2023

In der PLM-Welt gibt es viele Veränderungen und Innovationen. Die meisten werden Sie kennen und einige haben Sie bestimmt schon für Ihr Unternehmen umgesetzt. Die hochdynamische Natur unserer Gegenwart bringt es jedoch mit sich, dass man eigentlich nie stehen bleiben kann. Als Denkanstoß für Ihre Planungen haben wir den PLM-Autor Ralf Steck gebeten, eine gewichtete Zusammenstellung der aktuellen Möglichkeiten und Aufgabenfelder zusammenzustellen. Herausgekommen ist sein Gastbeitrag der dem Motto folgt: Schritt für Schritt in die digitale Zukunft.

Sechs Trends für die digitale Produktentwicklung
Ralf Steck

Gastautor

Ralf Steck

Dipl.-Ing. Ralf Steck ist freier Fachjournalist für die Bereiche CAD/CAM, IT und Maschinenbau

Blicken wir zu Beginn des noch jungen Jahres 2023 auf die großen Kontexte im PLM-Bereich. Hier zeigen sich nämlich einige übergeordnete Themen, die Auswirkungen auf die nahe Zukunft haben.

Dass Prognosen schwer sind, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen, hat schon Mark Twain erkannt. Uns bleibt kaum etwas anderes übrig, als aktuelle Trends in die Zukunft zu interpolieren und daraus Vorhersagen abzuleiten. Das blendet natürlich alle Arten von Entwicklungen aus, die disruptiv sind – wie Corona, der Ukrainekrieg oder auch verschiedene technische Innovationen wie das Smartphone. Doch schon die vorhersehbaren Entwicklungen geben genügend „Food for Thoughts“, wie es in der nächsten Zeit weitergehen könnte.

Am Ende ist es ein einziger Megatrend, der alle anderen nach sich zieht: Die immer vollständigere Digitalisierung von Produkten, Prozessen und Unternehmen. Die Digitalisierung bringt Erfordernisse mit sich, beispielsweise Model Based Definition (MBD) oder den digitalen Zwilling, aber auch Möglichkeiten, die ohne Digitalisierung nicht möglich wären, wie Plattformarchitekturen, verteiltes Arbeiten oder auch die Lieferkettenverfolgung.

Das macht ja auch die Umsetzung der Digitalisierung auf den ersten Blick für viele Unternehmen so schwierig – viele Technologien bauen aufeinander und auf den Daten anderer Prozesse auf. Der IT-Verantwortliche steht also vor dem Dilemma, eigentlich interessante Funktionen nicht einführen zu können, weil Basisdaten fehlen oder noch nicht digital ablaufen. Trotzdem lassen sich bei genauerer Analyse fast immer „low-hanging fruits“ finden, die sich schnell implementieren lassen und den Anwendern zeigen, wie wertvoll die Digitalisierung tatsächlich ist.

1. Überall zuhause – Arbeiten in der Cloud

Für die meisten Unternehmen und ihre Mitarbeiter waren die Corona-Lockdowns und die damit verbundene Einführung von Home-Office-Arbeit die erste Berührung mit Cloud-Technologien. Doch auch schon vor Corona – und danach – gibt es Argumente dafür, Datenbestände und Applikationen in die Cloud zu verlagern. Dies beginnt bei der Unabhängigkeit vom Standort und Gerät, die es ermöglicht, von überall her zu arbeiten. Das Arbeiten von zu Hause aus wird von vielen Mitarbeitern positiv gesehen und wird integraler Bestandteil unserer Arbeitswelt bleiben.

Nicht zuletzt spart das Home-Office Fahrwege und damit Energie, im Idealfall lassen sich Büroflächen reduzieren und die verbleibenden Flächen effizienter nutzen. In Zeiten explodierender Gas- und Strompreise ist dies eine gute Möglichkeit, schnell Einsparungen zu realisieren.

In die Cloud verlagerte Anwendungen können auf leistungsstarken Maschinen im Rechenzentrum laufen, der Rechner, an dem der Anwender sitzt, hat keine besonderen Anforderungen. Daten bleiben im Cloud-Rechenzentrum und sind dort sicher und die Kosten für IT-Ausstattung und -Administration sinken, wenn die Software komplett in der Cloud läuft und keine lokalen Installationen und Updates notwendig sind. Mietlizenzen oder pay-per-use-Modelle senken den initialen Lizenzkostenaufwand.

Nicht zuletzt können Mitarbeiter an verschiedenen Standorten direkt zusammenarbeiten – und das immer und jederzeit auf der aktuellsten Version der Daten. Komplexe und anfällige Synchronisationsläufe sind nicht mehr notwendig. In manchen Fällen ist es natürlich auch möglich, eine solche Cloud im eigenen Rechenzentrum zu betreiben, allerdings hat das Outsourcing an dieser Stelle einen großen Vorteil: Etablierte Cloud-Provider beschäftigen Sicherheitsspezialisten, die die aktuellen Bedrohungen kennen und die Installation dementsprechend auf dem nötigen Stand halten.

2. Das 3D-Modell als Basis für alles – MBD

Digitalisierung setzt maschinenlesbare, digital verfügbare Daten voraus. Eine 2D-Zeichnung – auch im PDF-Format – ist das Gegenteil hiervon. Die 2D-Darstellung muss vom Betrachter im Kopf zu einem dreidimensionalen Objekt zusammengesetzt werden – das ja bei 3D-Konstruktion eigentlich schon vorhanden wäre.

Trotzdem werden heute noch in vielen Unternehmen viele relevante Informationen in Zeichnungen versteckt – Maße, Toleranzen, Oberflächenangaben, Fertigungsinformationen und vieles andere. Damit sind diese Daten für weitere, digitale Prozesse verloren. Model Based Definition (MBD) ermöglicht es, all diese Informationen an das 3D-Modell anzuhängen und digital zugänglich zu machen.

Dabei erfordert die Umstellung auf MBD beim Konstrukteur keine Mehrarbeit, er definiert die notwendigen Zusatzinformationen direkt am 3D-Modell statt in einer Zeichnung. Im Gegenteil, das mühselige Ableiten von 2D-Ansichten entfällt oder wird automatisiert. Dabei werden Daten zugänglich, die in vielen weiteren Prozessen genutzt werden können – vom Einkauf über die Fertigung bis hin zur Logistik. MBD ist damit ein Paradebeispiel für eine „low-hanging fruit“, die wenig Aufwand bei der Einführung erfordert, aber sehr positive Auswirkungen auf den Gesamtprozess hat.

3. Simulation demokratisieren – Modsim für Konstrukteure

Konstruktionsbegleitende Simulation ermöglicht es Konstrukteuren, ihre Produkte virtuell zu testen, bevor der erste Prototyp entsteht. Viele Softwarepakete bieten die Möglichkeit, dass Simulationsspezialisten Templates erstellen, die alle Randbedingungen und andere Voreinstellungen enthalten oder als Parameter zugänglich machen, die der Konstrukteur ergänzt. Er kann dann auch komplexe Simulationen durchführen, ohne die Feinheiten des Simulationssystems kennen zu müssen.

So wird die Simulationsabteilung entlastet und kann sich den inzwischen oft von Regulierungsbehörden geforderten Abnahmesimulationen und Neuentwicklungen widmen. Diese Technologie, inzwischen unter dem Namen MODSIM – einer Kombination aus den Worten „Modellierung“ und „Simulation“ – bekannt, profitiert übrigens auch von der Cloud, indem komplexe Berechnungen auf die nahezu unerschöpfliche Rechenleistung der Cloud übertragen werden und die Ergebnisse sehr schnell zur Verfügung stehen. MODSIM ist keine Technologie, sondern eine Methode, die Funktionen der 3DEXPERIENCE Plattform – speziell CATIA und SIMULIA – nutzt und integriert.

4. Alles kommt zusammen – der digitale Zwilling

Es wird deutlich: Die bisher beschriebenen Trends bauen aufeinander auf und ergänzen sich. Das Ergebnis ist der digitale Zwilling, eine digitale Repräsentation des realen Produkts, die dessen reales Verhalten durch Simulationsmodelle vorhersagt.

Alle Unternehmensprozesse können diese digitalen und maschinenlesbaren Informationen nutzen.

So muss der Simulationsexperte beim Definieren einer Analyse nicht mehr nachforschen, welches Material, welche Eckradien und Oberflächengüten an einem Bauteil eingesetzt werden, um die Kerbrissneigung zu analysieren – der digitale Zwilling bringt diese Informationen bereits mit und die Simulationssoftware kann diese Randbedingungen direkt aus dem Modell extrahieren. Das spart nicht nur Arbeit, sondern verhindert auch Übertragungsfehler.

Auch in allen anderen Bereichen, in denen die Produktdaten Teil des Prozesses sind, werden diese Daten genutzt – vom Einkauf als Vorlage für Zulieferer, im Marketing für Produktrenderings, in der Fertigung, in der Logistik für das Verpackungsdesign. Der Vertrieb kann dem Kunden anhand des digitalen Zwillings das Produkt virtuell demonstrieren und der Service plant seine Wartungs- und Umbauarbeiten daran.

Auch für Schulungen und sogar für die Vorhersage der Zukunft lässt sich der digitale Zwilling nutzen, letzteres, indem man in der Simulation schneller laufen lässt als real und die Abnutzung beziehungsweise das Verhalten des Produkts „im Zeitraffer“ beobachtet.

5. Plattformen – Betriebssystem des digitalen Zwillings

Der digitale Zwilling lebt davon, dass Daten frei fließen und von den unterschiedlichen Bereichen des Unternehmens mit Werkzeugen bearbeitet werden, die ihren jeweiligen Anforderungen entsprechen. Der Qualitätsmanager benötigt beispielsweise Zugriff auf die Geometrie, braucht aber keine Editierfunktionen wie der Konstrukteur – er will nur Maße abnehmen können.

Die 3DEXPERIENCE Plattform bildet dies mit Hilfe von Rollen ab. Jede Rolle beschreibt eine Tätigkeit und die zugehörigen Werkzeuge. Ein Mitarbeiter kann eine oder mehrere Rollen und damit genau die Funktionen zugeordnet bekommen, die er benötigt. Zudem sorgt die Plattform dafür, dass die Daten immer in dem Format vorliegen, in dem der jeweilige Anwender sie benötigt. Der Logistiker benötigt das 3D-Modell eines Blechgehäuses, um die Verpackung zu definieren, während der NC-Programmierer eine DXF-Datei des abgewickelten Blechs exportieren möchte, um das Laserschneidezentrum zu programmieren.

Ich nenne deshalb Plattformen wie die 3DEXPERIENCE das „Betriebssystem des digitalen Zwillings“, wobei eigentlich der Vergleich mit Betriebssystem plus Anwendungen besser passen würde. Auf jeden Fall ist die Plattform dafür verantwortlich, Daten zu generieren, zu sammeln, zu transportieren und in Beziehung zueinander zu setzen. In der Plattform gewinnt der digitale Zwilling an Substanz, bis er ein wirklich realitätsgetreues Abbild des realen Produkts ist.

Und nicht zuletzt liefert damit die Plattform die Basis für Innovationen, digitale Geschäftsprozesse und damit auch für neue Geschäftsmodelle, die ohne durchgängige Datenbasis nicht möglich wären.

6. IoT – Die Feedbackschleife für Produkte

Viele dieser digitalen Geschäftsmodelle beruhen darauf, dass statt eines physikalischen Produkts dessen Wertschöpfung verkauft werden. So verkauft ein Kompressorproduzent nicht mehr seine Kompressoren, sondern eine bestimmte Literleistung Druckluft in einer genau definierten Qualität. Um diese Dienstleistung abzurechnen und jederzeit verfügbar zu halten, benötigt er Echtzeitdaten aus dem Kompressor, den er beim Kunden betreibt – diese Daten liefert die Anlage über das Internet der Dinge (Internet of Things, IoT) zurück. Um die riesigen Datenmengen bewältigen zu können, sind Automatismen für das Konsolidieren, Überwachen und Interpretieren der Daten notwendig.

Und dann müssen die Erkenntnisse aus diesen Daten die richtigen Personen erreichen. Das kann der Servicetechniker sein, der einen Alarm erhält, dass demnächst ein Bauteil kaputtgeht und er dieses vorausschauend austauschen soll. Die Konstruktionsabteilung wird darauf aufmerksam gemacht, dass an einer bestimmten Baureihe eine Baugruppe übermäßig oft ausfällt, so dass sie eine verbesserte Version entwickeln und ausrollen kann. Auch diese Verteilung ist Aufgabe einer Plattform wie der 3DEXPERIENCE.

Auf geht‘s in die digitale Zukunft!

Die Digitalisierung schreitet voran und mit ihr die Aufgaben, aber auch die Chancen, die sich daraus ergeben. Mit Hilfe einer Roadmap, die gut durchdacht, an die Anforderungen und Voraussetzungen des eigenen Unternehmens angepasst und mit den verfügbaren Tools synchronisiert ist, lässt sich der Weg in die digitale Zukunft planen und Schritt für Schritt beschreiten, von den einfachen, aber wirkungsvollen Einzelmaßnahmen bis hin zu komplexen digitalen Geschäftsprozessen.

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